Ästhetik der Bewegung

Aus dem Katalog „Space Transforming Body“, Juni 2016, von Charlotte Silbermann

Durchs Haus der Seele die Leidenschaften irren – […] in Kleidern aus vergangener Zeit” (1)

Verdichtungen
Die Rede vom Poetischen ist so inflationär, dass sich ihre Bedeutung in ein sentimentales Nichts aufgelöst zu haben scheint. Folglich ist die Gefahr groß, dass der Begriff seine Wirkung verliert, ist er tatsächlich einmal angebracht. Ich wage dennoch bei Rebecca Raues Collagen von poetischen Arbeiten zu sprechen, weil sie eine lyrische Qualität besitzen, die an den Kern poetischer Kunst rühren: das Moment der Verdichtung.

Die Collagen von Rebecca Raue sind Verdichtungen in mehrfacher Hinsicht. Sie sind Überlagerung von Materialien, Verschränkung von abstrakten und konkreten Bildern sowie Einfaltungen unterschiedlicher Raum- und Zeitebenen. Auf diese Weise verdichtet die Künstlerin eine innere Welt des Empfindens und Erinnerns mit der äußeren Welt der Erscheinungen.

Wie schon in früheren Arbeiten, werden auch in den neueren Collagen Worte zu Bildern und Bilder zu Begriffen. Schrift, Linien, Farben und Zeichen sind als rhythmische Kompositionen verwoben, sodass zwischen dem Sichtbarem und dem Unsichtbarem eine Bewegung entsteht. Den Blick unentwegt umherschweifend, schwankt der Betrachter zwischen sinnlicher Erfahrung und intellektueller Betrachtung. Man könnte auch sagen, der Blick irrt in der undurchdringlichen Gesten- und Farblandschaft hin und her. Beinah physisch lässt sich dabei ein endloses Umkreisen von Bedeutungen erfahren. Das ist die »Lust am Text« im Sinne Roland Barthes’. Die künstlerische Form der Verdichtung entzieht sich einer Eindeutigkeit. Verdichtung heißt immer auch Überforderung, bis zu dem Punkt, an dem man erschöpft im Zentrum der Spirale verweilt und plötzlich doch versteht.

Prozessualität und Komposition
Eine wesentliche Technik in Raues Arbeiten ist die Geste des Überschreibens. Sie formuliert ein Tasten und Suchen, das eine Endgültigkeit ausschließt. Der Prozess des Überarbeitens ist ein unendlicher.  Diese unentwegte Suche nach einer Positionierung, die  in den Collagen sichtbar ist, ist entscheidend für das Moment von Verdichtung. Raues Farblandschaften haben keinen festgesetzten Anfangs- und Endpunkt. Vorder- und Hintergrund ebenso wie Oben und Unten scheinen in  Bewegung.

Das meint nicht, dass die Collagen keine ausgewogenen Raumgefüge seien. In ihrer Gesamtheit erscheinen sie als wohlkomponierte und durchgearbeitete Farbräume. Doch erinnern die Kompositionen dabei eher an die chaotische Struktur eines aufgewühlten Ozeans, als an arkadische Landschaften. Auf der glatten Oberfläche der Grundierung bahnen sich tosende Wirbel wie Erregungen ihren Weg. Gesten, Worte und Linien scheinen als »écritures automatiques« das Bild zu überschwemmen. Paradoxerweise erscheinen sie als unbewusste Unterwanderungen des Bildsystems, das sie selbst erst erzeugen. 

Neben den unbewussten Wellen der Bildentstehung verweisen die Korrekturen, Übermalungen und eingefügten Fotografien aber auch immer wieder auf wohl überlegte Eingriffe in das Bildgeschehen, als wollten sie dem Überborden Einhalt gebieten und das ungezähmte Meer kartographieren. Auch die Expansion der Collagen in die dritte Dimension bestätigt ein bewusstes Eingreifen in die Bildentstehung. Pappelemente ragen aus dem Bildraum heraus und geben Fixpunkte im Labyrinth der internen Bildwelt. Sie erscheinen als Anker, Boote, Türen, Klippen, Treppen zwischen denen sich dann immer wieder die Möglichkeiten des »Walk away« auftun, jene Leerstellen ins Unbekannte.

Unbewusste Linienführung und bildnerische Kontrolle prallen gleichsam in den Collagen aufeinander, und sie erscheinen so als durchgearbeitete Kompositionen und intuitive Setzungen zugleich.

Eigenes und Fremdes
Die Gestalten in den Bildern von Raue sind Flüchtige, Reisende, Nomaden, Krieger, Schatten, Frauen und Männer aus vergangenen Zeiten und fremden Kulturen. Andere als das Ich?

Die Sehnsucht nach dem Fremden ist immer auch eine Erweiterung des Eigenen, oder ein Hinterfragen des Selbst. Wie sieht eine andere Struktur von Leben aus als die mir bekannte? Diese den Collagen inhärente Frage verweist auf ein Aufbrechen von festgefahrenen Systemen und ist damit das thematische Pendant zur prozessorientierten Ästhetik der Collagen. Die hier angelegte Sehnsucht nach dem Fremden ist verbunden mit der Erweiterung des Eigenen und dem Hinterfragen des Selbst; wiederum Bewegung und Umsortierung.

Auch Hannah Höch, die Mutter der modernen Collage, arbeitete zwischen 1924 und 1930 in ihren Fotomontagen »Aus einem ethnographischen Museum« mit Bildmaterial außereuropäischer Kulturen. Auf groteske Weise verbindet die Künstlerin Bilder von Kultobjekten verschiedenster Volksstämme mit modernen westlichen Magazinfotos. Die hybriden Gestalten, die dabei entstehen, ironisierten und reflektieren den Blick auf das westliche Schönheitsideal. Eigene, westliche Sehgewohnheiten werden dabei in Frage gestellt.

Rebecca Raue verzichtet auf das Moment der Verfremdung. Vielmehr ist bei ihr das photografische Material eingebettet in die Bewegungen der Komposition. Der Blickkontakt  mit einer Gestalt auf den Collagen von Raue ist wie eine Begegnung innerhalb einer undefinierten Konstellation von Zugehörigkeit ohne feste Position. Hier gibt es keine klare Linie zwischen den Fremden und dem Eigenen. Alle eindeutigen Linien sind bei Raue verschwommen, Grenzen verwischt. Auf einer Landkarte, in der nichts wirklich festgeschrieben ist, ist auch das Fremde und Vergangene nicht weiter weg vom Selbst als das scheinbar Vertraute und Gegenwärtige.

(1) Konstantin Kavafis: „Im Haus der Seele”, in: Die vier Wände meines Zimmers. Edition Akzente Hanser, München Wien 1994, S. 86.