Heimat anders denken

Aus dem Katalog „Heimat anders denken”, März 2016, von Rebecca Raue

Wo beginnt innen? Wo hört außen auf? oder:
Wo beginnt außen? Wo hört innen auf?


Der Begriff Heimat verweist für gewöhnlich auf einen geografischen Ort.
Das Gefühl von Heimat kann durch Assoziationen wachgerufen werden.
Es gibt Klänge, Gerüche und Farben, die an Heimat erinnern.
Heimat braucht gelebtes Leben. Heimat ist ein Ort, der uns vertraut ist, weil wir dort schon waren. Schon viele Male. Oft ist Heimat der Ort der Kindheit, der Geburtsort.
Das Wort Heimat wird mit einem wohligen Gefühl in Verbindung gebracht, mit schönen Erinnerungen.
In Märchen und Geschichten muss oft die Heimat verlassen werden und die Heldin oder der Held wird auf eine Reise geschickt, auf der sie oder er reift, um nach all den Prüfungen den wahren Wert des Eigenen zu erkennen und so – sich ihrer oder seiner Kräfte bewusst – in die Heimat zurückzukehren.

Wenn wir an die Essenz von Heimat herankommen wollen, müssen wir zwischen den Ebenen navigieren. Wir müssen Heimat umkreisen, wie der Falke „den uralten Turm“ in Rilkes wunderbarem Gedicht. Denn naturgemäß gibt es nicht nur die geografische Heimat. Natürlich steht Heimat für viel mehr, ist uns Bild, Auftrag, Sehnsucht.

Wo liegen die Grenzen der Heimat? Wo hört Heimat auf? Wo fängt sie an?
Ist Heimat als emotionales Gebiet definierbar? Die Grenze liegt dort, wo die Fremde, das Fremdsein beginnt. Auch ein unbekanntes Gebiet können wir kennenlernen, beleuchten, liebgewinnen. Menschen, mit denen wir uns verbunden fühlen, können in uns das Gefühl von Heimat hervorrufen. Wenn sie da sind, kann eine bewegliche Heimat entstehen. Hannah Arendt spricht in diesem Zusammenhang von „Polis“: ein Ort der Zusammenkunft, der einer geistigen Heimat gleicht, weil guter Austausch zwischen Menschen möglich ist. Aber wenn die Menschen gehen? Fliehen? Sich verändern? Alles ist in stetiger Bewegung. Hält Heimat der Bewegung stand? Können wir uns auf Heimat verlassen?

Als ich neulich einen 12-jährigen Jungen nach seiner Heimat, seinem Zuhause fragte, sagte er: „Meine Heimat ist die Türkei!“ Ich fragte ihn: „Wie ist es denn dort? Wie ist die Landschaft? Wie riecht es? Wie sieht es da aus?“ Er wusste es nicht. Heimat ist für ihn zu einem Ort aus Erzählungen geworden, zu einem Ort, der für ihn keine Bilder hat. In seinem Fall (und in vielen anderen) hat sich der Begriff Heimat komplett von der eigenen Erinnerung gelöst. Der Begriff wird benutzt im Hinfühlen zu einem Erinnerungsraum der Eltern. Dabei ist der eigene Erlebnis- und Bilderraum ein komplett anderer. Heimat?

Wir leben in einer Welt, die sich uns Menschen präsentiert, als könnten wir überall zuhause sein. Im Internet können wir uns fast jeden Winkel der Erde anschauen, den Weg finden. Dennoch leben viele Menschen auf kleinstem Raum maximal entwurzelt. Heimat fehlt. Geographisch aber auch in den eigenen Innenräumen.

Können wir lernen, in uns eine Heimat zu etablieren, die eine andere Wahrhaftigkeit, eine andere Beständigkeit hat, als die aufs Außen bezogene? Das schließt die Liebe, die wir zur Erde, zu bestimmten Orten, zu Menschen, Gerüchen und Farben empfinden und die uns er-innern ja nicht aus! Im Gegenteil.

Heimat mäandert zwischen Innen und Außen.
Das Äußere berührt innen und das Innere beeinflusst unseren Blick aufs Außen.

Heute ganz aktuell sind unvorstellbar viele Menschen auf der Flucht. Sie müssen ihre Heimat verlassen. Ein sehr schmerzhafter Prozess.
Gleichzeitig gibt es die, die da sind, wo die Flüchtenden hinkommen. Sie haben Angst, dass es zu voll wird in ihrer Heimat. Sie haben Angst vor Verlust, vor Veränderung.
Heimat ist also für die einen und die anderen ein Schlüsselbegriff.
Die zentrale Frage in der gegenwärtigen Situation ist, wie wir als Gesellschaft mit der „Sehnsucht nach Heimat“ umgehen, und ob es möglich ist, sie zu transformieren.
Denn wir alle haben uns von unserer Heimat entfernt und wie die Heldin oder der Held im Märchen müssen wir zurückfinden.

Wo aber ist dieser Ort, der keine geografische Positionierung hat, den der kreisende Falke spürt, wenn ihn nichts mehr trennt von der Luft, in der und durch die er schwebt?

Ist es vielleicht möglich, dass Heimat zeitlos ist?
Ein Ort, den wir schon kannten, bevor wir geboren wurden und der uns im Sterben schützen wird?

Wir, die wir hier geschäftig unsere Leben leben, sind wir nicht letztendlich alle auf der Suche nach Heimat?
Und manchmal blinzeln Erinnerungen durch.

Was, wenn Heimat genauso viel mit Himmel und Weite zu tun hat wie mit Wurzeln und Begrenzung? Was, wenn der äußere Ort nicht mehr ist als ein Erinnerungsraum, eine Aufforderung zur Innensicht, eine Einladung, die Frohsinn verspricht?

Heimat.

Der Körper zwischen Himmel und Erde.
Die Energie zwischen Mann und Frau.
Der Ton zwischen laut und leise.
Die Ewigkeit zwischen Ein- und Ausatmung.

Wenn wir Heimat als inneren Ort verstehen, der unabhängig ist von äußeren Territorien, entsteht eine Verbundenheit zum Innen, die relevant und wahrhaft Sinn stiftend ist.
In dieser Verbundenheit können wir ganz selbstverständlich Grenzen ziehen. Grenzen, die aus innerem Einklang gezogen werden, verletzen nicht langfristig.
Diese Grenzen sind irritierend, weil ungewohnt und sind doch letztendlich heilsam. Dadurch, dass wir uns auf unsere individuelle innere Heimat besinnen, zentrieren wir uns und manifestieren eine Kraft, durch die wir in der Lage sind, neue Strukturen in unserer Gesellschaft zu etablieren.

Zuhause ist für die meisten Menschen sehr weit weg. Aber es lohnt, sich auf den Weg zu machen.