Poren öffnen sich

Aus dem Buch „Bilderträume. Die Sammlung Ulla und Heiner Pietzsch“, Juni 2009, von Hansdieter Erbsmehl

Mit der Einführung der abstrakten Malerei in den Kanon der westlichen Kultur vor genau einhundert Jahren wurde die bildende Kunst von ihren narrativen Aufgaben entbunden. Gleichzeitig wurde generell die Glaubwürdigkeit der gegenständlichen Bildnerei angezweifelt. Wenn Kunstwerke keine Gedanken oder Sachverhalte mehr verbindlich auszudrücken vermögen, wenn es überhaupt keine Bilder mehr geben soll, die diese Lücke ausfüllen könnten, dann stellt sich für viele Künstler die Frage, wie sie sich überhaupt noch mitteilen und verständigen sollen, bildhaft oder lieber gleich verbal. Diesen grundlegenden und nie aufzulösenden Widerspruch rufen Rebecca Raues Zeichnungen in Erinnerung: „Zeichnung und Schrift zusammen zu bringen, ohne dass die Worte beschreibend, die Zeichnung bebildernd ist“, kommentiert die Künstlerin ihre Herangehensweise, großformatige Papiere mit allen nur greifbaren Mal-, Zeichen- und Schreibutensilien zu füllen. In der heutigen Informationsgesellschaft, an der alle – ob passiv, ob aktiv – teilzunehmen gezwungen sind, sich über Sprache und visuelle Zeichen zu verständigen, wirkt das Mitteilungsbedürfnis der Berliner Künstlerin paradoxerweise ebenso vertraut wie befremdend. Denn es entzieht sich den Übereinkünften für eine schnelle und unkomplizierte Kommunikation, die ihre Bildzeichen und die geschriebenen Worte gleichwohl suggerieren.

Das sind eher Notizbilder, vielleicht auch Bildnotate, als gewöhnliche Schriftbilder, als welche sie bezeichnet wurden. Sie teilen sich mit und entziehen sich doch gleich wieder dieser Funktion. Autographisches Grafitti und rhetorisches Palimpsest, visuelle Zeichen und Kürzel verdichten sich zu Geschichten und wollen mit Hilfe einzelner eingestreuter Worte und fragmentierter Sentenzen entschlüsselt werden. Wenn sich diese künstlerisch gesetzten Gedankensplitter in ihrem eigenen Bildraum in einem ruhelosen, introspektiven Prozess entfalten, dann erinnert das an die surrealistische Praxis des Notierens von Träumen, an das automatische Schreiben und an eine Montagetechnik, in der Wirklichkeitsfragmente nicht mehr von Traumpartikeln unterscheidbar sind. Verbale und visuelle Repräsentationsweisen, bildwürdige Schrift und Gedankenbilder überschneiden sich und suggerieren eine synästhetische, ganzheitliche Erfahrung.
Der gleich mehrfach ausgeschriebenen Kardinalzahl „zwei“ entsprechen verdoppelte und über das ganze Blatt verteilte Bildzeichen: zwei Paare in Petrol, zwei Segelboote in Violett und zwei schwarze Schemen von Vierbeinern. Sie schweben im freien Raum zwischen amorphen mint- und rosafarbenen inselartigen Gebilden, zwischen die sich weitere feste Formen schieben wie das Haus in tiefem Schwarz und der Bottich in einem energisch warmen oder auch warnenden Rot. Hinzu kommen kalt wirkende azurblaue Wasser und Wolken assoziierende Farbschemen. Zwischen alldem schweben Bleistiftkringel, die weder Bild noch Schrift sind. Einige mit einer orangefarbenen Füllung streben schwerelos nach oben und nehmen die Aufwärtsbewegung einer Leiter an, andere, petrolfarbene, liegen am Grund, die meisten jedoch sind farblos durchsichtig. Sind das jene Poren, die sich den eingeschrieben Worten zufolge öffnen? „Poren öffnen sich“ – jene kleinen Öffnungen oder Blasen, die in organischen wie auch in anorganischen Substanzen vorkommen, Membrane, die durchlässig sind für Luft, Wasser und gelöste Stoffe, Filter zwischen einer Innen- und einer Außenwelt, durch die Stoffe in einen geschlossenen Kreislauf eindringen, oder, umgekehrt, „ausdringen“.

Das zweite eingeschriebene Fragment lautet „endlich ehrlich“. Stoßseufzerartig scheint es einen erreichten Zustand zu benennen, nämlich Ballast abgeworfen zu haben und nunmehr authentisch zu leben Unentschieden ist, ob Rebecca Raues Zeichnungen im Vertrauen auf eine mögliche Wahrheit des assoziierten Materials entstehen, oder aus einem Misstrauen heraus, ob sie wissend sind oder zweifelnd. Denn sie verweisen auf eine gebrochene Gefühlsbeziehung zu einer Welt der rationalen Vernunft, in der sich die meisten Menschen eingerichtet haben und die nur ihre eigene Rechtfertigung kennt. Indem die Künstlerin gegen diese Abhängigkeit und die Gefahr ihrer eigenen Domestizierung opponiert, teilt sich Widerständiges mit – aber auch der tief empfundene Wunsch, dass da noch etwas anderes sein möge, zumindest die Aussicht auf eine vielleicht gefühlsbetonte, vielleicht magische Intimität. Diese Bilder laden dazu ein, sich in ihnen zu ergehen, sie zu betrachten und gleichzeitig zu lesen. Doch sich in ihnen zu versenken, scheitert genau an diesem Widerständigen. Erst wenn es gelänge, die unterschiedlichen Prozesse der Betrachtung und der Lektüre an jene synästhetischen Wahrnehmungserfahrungen zurückzubinden, die die Künstlerin während ihrer Arbeit entfaltet, entfielen auch die vergeblichen Versuche, Worte und Bildzeichen miteinander vereinbaren zu wollen. Denn das war auch schon dem Wunsch abstrakt arbeitender Künstler versagt geblieben.